Die große Selbsttäuschung: Konsum, Klima und der stille Zusammenbruch unserer Systeme
- Sonja Meyer-Voss
- vor 12 Minuten
- 5 Min. Lesezeit

Es gibt Momente, in denen man das Gefühl hat, die Welt sei in einem kollektiven Selbstbetrug gefangen. Die COP30 in Belém war genau so ein Moment. Die wissenschaftlichen Fakten liegen klarer denn je auf dem Tisch, die Extremwetterereignisse drängen sich längst nicht mehr nur in politische Debatten, sondern in unseren Alltag, und die globale Temperatur hat real die Marke von rund 1,5 bis 1,6 Grad über vorindustriell erreicht.
Und trotzdem scheitert die Weltgemeinschaft erneut an etwas, das inzwischen so banal klingt, dass man es kaum noch aussprechen mag: ein verbindlicher, konkreter Ausstieg aus fossilen Brennstoffen.
Wieder nicht.
Nicht einmal ansatzweise.
Man könnte lachen, wäre es nicht so tragisch.
Die Machtverhältnisse sind unverkennbar: Die Fossilindustrie ist nicht der Lobbyist am Rand, sie ist der Mittelpunkt des Tisches. Ökonomisch, politisch, strukturell. Der Satz „Die Fossilwirtschaft ist die reichste Wirtschaftsmacht der Welt“ ist keine Polemik, sondern eine sachliche Beschreibung. Und während Delegationen um Formulierungen ringen, die möglichst niemandem wehtun, wird offensichtlich, dass es bei diesen Gipfeln nicht um Moral geht. Es geht um Macht. Und Macht gewinnt.
Parallel dazu führen wir in der Öffentlichkeit Debatten, die so realitätsfern anmuten, dass sie fast surreal erscheinen.
Ob wir „dieses Jahr vielleicht ein bisschen weniger fliegen sollten“.
Ob E-Autos „zu nervig“ sind. Ob der eigene Lebensstil „wirklich eingeschränkt“ werden muss. Als sei der Lebensstil, den wir so vehement verteidigen, nicht exakt derjenige, der uns in diese Lage gebracht hat.
Was mich daran am meisten wütend macht – und ich benutze dieses Wort bewusst –, ist dieser neue Hedonismus, der über zb. Instagram liegt wie ein ästhetischer Nebel. Moodboards in Beige, Kaffeezeremonien im Gegenlicht, „authentische“ Slow-Motion-Reels, und darunter Affiliate-Links für Produkte, die niemand braucht, und Rabattcodes für Fernreisen, Business-Class, Lifestyle-Abenteuer „für die Seele“.
Fliegen als Selbstfürsorge. Konsum als Identität. Wachstum als Hobbydisziplin.
Das Absurde: Genau die Accounts, die Achtsamkeit inszenieren, verkaufen aktiv das Gegenteil. Nicht, weil sie schlechte Menschen wären. Sondern weil ihr Geschäftsmodell auf Konsum basiert. Durchgehendem Konsum. Möglichst ästhetisiertem, möglichst identitätsstiftendem Konsum. Und kein Geschäftsmodell, das auf dem Verkauf von Unnötigem beruht, wird je wirklich nachhaltig sein. Ganz gleich, wie zart die Farbtöne und wie sanft der Filter. Und wie viel Shapewear-Bodys noch gezeigt werden und wie viele nun wirklich perfekte Makeup-Routinen.
Mich stört nicht der einzelne Flug. Nicht die einzelne Bestellung. Nicht das einzelne Auto. Mich stört das Muster. Die Normalisierung. Die Haltung dahinter: „Der eine Flug macht’s nicht.“ – während Millionen Menschen exakt dasselbe denken und tun. Was?! Fliegst du nicht mal das Wochenende nach Malle, wenn das Wetter sagen wir mal im februar so wirklich schlecht ist????
Die Physik verhandelt nicht. Sie rechnet. Sie führt Buch.
Und wenn wir über eine 2-Grad-Welt sprechen, dann sprechen wir nicht über eine abstrakte Kennzahl, sondern über eine völlig andere Realität. Eine Welt, die gefährlicher, instabiler, unberechenbarer wird.
In einer solchen Welt werden Hitzewellen tödlich. Nicht nur im globalen Süden, sondern auch in Südeuropa, Kalifornien, Australien. Und übrigens auch im Rhein-Main-Gebiet. Städte, die tagsüber unbewohnbar werden. Krankheitsvektoren, die sich in neue Regionen ausbreiten. Korallenriffe, die praktisch komplett kollabieren und mit ihnen ganze marine Ökosysteme und Ernährungsnetze.
Ozeane, die wärmer, saurer und lebensärmer sind. Fischbestände, die wegbrechen. Küsten, die unwiederbringlich verloren gehen. Landwirtschaftssysteme, die unter Hitze, Dürre und Starkregen instabil werden. Auch die Abwassersysteme in Großstädten, wer ein besonders anschauliches Beispiel für mehr Phantasie benötigt.
Ernährungssicherheit wird zu einem geopolitischen Risiko. Migration wird nicht mehr moralisch diskutiert, sondern physikalisch erzwungen. Millionen Menschen werden sich bewegen, weil es keine Alternative gibt. Physik lässt sich nicht durch Grenzpolitik stabilisieren. Und jepp, lass sich mal ganz Indien auf den Weg machen...
Ökonomisch wird die Lage ebenfalls dramatisch. Extreme Wetterereignisse kosten bereits heute Billionen – und diese Summen vervielfachen sich in einer 2-Grad-Welt. Versicherungen steigen aus, Staaten überlasten, Volkswirtschaften verlieren Produktivität. Es ist nicht nur moralisch falsch, nichts zu tun. Es ist ökonomisch irrsinnig.
Doch all das ist nur die sichtbare Vorderseite einer viel tieferen Krise: der strukturellen Fragilität unserer Systeme.
Es sind nicht nur Klimaforscher, die warnen. Ökonomen wie Nassim Taleb beschreiben seit Jahren, wie anfällig hochvernetzte Finanzsysteme für nicht-lineare Schocks sind. Systeme, die nicht langsam, sondern abrupt kollabieren.
Philosophen wie Precht warnen vor institutioneller Erosion und gesellschaftlicher Erschöpfung.
Jurist und Autor Ferdinand Schirach beschreibt die Zerbrechlichkeit rechtsstaatlicher Strukturen unter Druck.
Und führende KI-Forscher weisen darauf hin, dass unser technologisches Tempo unsere politischen und organisatorischen Fähigkeiten längst überholt hat – mit dem realen Risiko, dass eine hinreichend intelligente KI nicht menschenähnlich, sondern übermenschlich agiert.
Parallel dazu arbeiten unsere Gesundheitssysteme am Limit. Nix neues, ist schon klar.
Nicht episodisch, sondern strukturell: Hitze, Demografie, psychische Erkrankungen, Pflegekrisen, Migrationsdruck. Systeme brechen nicht zusammen, wenn sie einmal überlastet sind – sie brechen zusammen, wenn Überlastung zum Normalzustand wird. Und genau dort stehen wir.
Drei Grundpfeiler unserer Zivilisation – Klima, Finanzen, Gesundheit, im Prinzip beispielhaft herausgegriffen – geraten gleichzeitig ins Wanken. Alle drei sind global vernetzt. Alle drei sind störanfällig. Alle drei zeigen bereits Risse.
Aber irgendwie müssen wir ja auch bis 2027 kommen ;-)
Ein Zusammenbruch muss nicht spektakulär aussehen. Er kann leise beginnen: Versorgungslücken, Preisexplosionen, politische Radikalisierung, erodierende Institutionen, instabile Lieferketten, technologische Kontrollverluste. Nichts davon wirkt wie „Apokalypse“. Und dennoch ist es ein Zusammenbruch – ein schleichender Verlust von Stabilität - und vor allem und da sind sich alle Denker erstaunlich einig, es führt zu Vertrauensverlust und der befeuert dann wieder die Zersplitterung.
Die Frage lautet deshalb nicht mehr: Ob wir an Grenzen stoßen. Sondern: Wie viel wir überhaupt noch beeinflussen können, bevor Kipppunkte nicht nur im Klima, sondern auch in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft überschritten werden.
Wir wissen alles, was wir wissen müssen. Wir haben Lösungen. Wir haben Technologien. Was uns fehlt, ist der Wille, die Konsequenzen zu tragen.
Und manchmal frage ich mich, ob es überhaupt vorgesehen ist, dass wir diesen Verlauf noch stoppen. Oder ob wir – wie das Römische Reich – erst durch Hybris, Bequemlichkeit und Dekadenz gehen müssen, bevor wir den Abgrund erreichen. Ob wir in einer Epoche leben, in der man noch schnell ein letztes Mal auf die Malediven fliegt, dann in künstlichem Schnee Skifahren geht, während unter einem längst der Boden bröckelt. In der wir den drohenden Zusammenbruch ästhetisieren, statt ihn zu verhindern.
Vielleicht ist das die bitterste Wahrheit unserer Zeit: dass der Klimawandel nicht nur eine ökologische Krise ist, sondern ein Spiegel. Ein Spiegel für eine Zivilisation, die glaubte, sie könne sich der Realität entziehen. Ein Spiegel für unsere Hybris. Ein Spiegel für unser Beharren auf einer Gegenwart, die uns die Zukunft kostet.
Ob wir aus diesem Spiegel lernen – oder nur kurz hineinschauen, bevor wir weiter Richtung Abgrund laufen –, wird sich nicht an einem politischen Gipfel entscheiden. Sondern daran, ob wir den Mut haben, die Hybris unserer eigenen Zeit zu durchbrechen.





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