Neurodivergenz & Human Design: Zwischen Anpassung und Einzigartigkeit
- Sonja Meyer-Voss
- 23. Mai
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Mai

Einleitung: Wenn du schon immer irgendwie „anders“ warst…
Du kennst das vielleicht: Du bist hochsensibel, nimmst Reize intensiver wahr, brauchst mehr Pausen, hast aber gleichzeitig einen enormen Fokus, wenn dich etwas wirklich interessiert. Du empfindest soziale Normen als anstrengend – aber du hast ein tiefes Bedürfnis nach Verbindung. Willkommen in der Schnittmenge zwischen Neurodivergenz und einem (unverstandenen) Human Design Chart.
Neurodivergente Menschen – sei es mit AD(H)S, Autismus-Spektrum, Hochsensibilität, Synästhesie, Zwangsspektren oder PDA (Pathological Demand Avoidance) – finden sich in klassischen Human Design Deutungen oft nicht wieder. Zu starr sind die Kategorien. Zu mechanisch die Empfehlungen.
Und zu wenig wird gefragt: Wie zeigt sich eigentlich ein undefiniertes Emotionalzentrum bei jemandem mit Autismus?
Heute schauen wir tiefer. Viel tiefer.
Und gleichzeitig möchte ich betonen, dass Human Design im klassischen Sinne kein Diagnose-Tool ist. Es gibt nicht die kausale Kette von Tor x = Symptom oder Krankheit y.
Das Chart gibt sicherlich viele Anhaltpunkte für bestimmte Zusammenhänge (und ja, auch Prädipositionen für bestimmte, sagen wir mal Ausdrucksformen über bestimmte Symptomatiken).
Um nur mal ein kurzes, vereinfachtes Beispiel zu nennen: jemand mit Tor 21 wird immer einen Hang zu oder den Wunsch nach Kontrolle haben.
Aber es macht einen Unterschied, dieses Tor im emotionalen Mond, im wilden, ungezähmten Mars, im strengen, disziplinierten Saturn oder im transformatorischen Pluto als Lebensthema, auf der körperlichen D-Seite oder auf der Persönlichkeitsseite zu haben.
Und ob sich die Kontrolle eher über autoritäre Verhaltensweisen im Außen zeigt oder über die Kontrolle von körperlichen Aktivitäten, wie Muskeltonus, Verdauung, Essverhalten usw. Und dafür muss man das gesamte Chart miteinbeziehen.
Und man wird wahrscheinlich nie zu 100% sagen können, dies und das ist Ausdruck der gemachten Erfahrungen oder Veranlagung ab Geburt. Aber man bekommt auf jeden Fall ein klareres Bild vom Ganzen.
Human Design ist kein Diagnosesystem. Aber ein Sensorium.
Ein Chart ersetzt keine Diagnostik – aber es eröffnet eine Sprache. Eine Sprache für Innenwelten, für Grenzerfahrungen, für Wahrnehmungsbesonderheiten, die in medizinischen Systemen pathologisiert werden, aber im Design zu Signaturen werden können.
Ein Beispiel:
Ein Kind mit auditiver Hochsensibilität, das in der Schule überfordert ist, könnte eine Kombination aus folgenden Chart-Merkmalen zeigen:
Rechte Wahrnehmungsvariablen (passiv, rezeptiv, sensitiv)
Unbewusste emotionale Autorität (verzögerte emotionale Klarheit) oder ein völlig undefiniertes emotionales Zentrum (ohne Filter für Emotionen von außen)
Offenes Wurzelzentrum (Stressverstärker)
Kanäle aus dem individuellen Schaltkreis (besonders 39–55 oder 12–22)
Wer das nur liest als „offene Zentren = Offenheit“ und „emotional = wartet auf Klarheit“, greift zu kurz. Hier sprechen wir über sensorische Verarbeitung, konditionierte Fehlanpassung und über ein System, das vielleicht nie gelernt hat, seine eigene Reizschwelle ernst zu nehmen und entsprechend Grenzen zu äußern.
Typische neurodivergente Muster im Chart (unvollständig, aber aufschlussreich):
Und bitte nicht falsch verstehen, man kann ein und dasselbe Chart haben (zumindest an der Oberfläche) und zwei völlig unterschiedliche Menschen. Es geht eben nicht nur um das, was definiert und damit spezialisiert und konstant verfügbar ist - sondern gerade auch um alles was offen ist, denn gerade da verankern sich die gemachten Erfahrungen. Und die sind in jedem (Familien-) System völlig andere. Und ja, bei 384 Toren mit Linien haben wir bei höchstens 26 definierten Toren alle SEHR viel Offenheit ;-).
Viele offene Zentren, oft emotionales Zentrum + Wurzel + Ego, d.h. hohe Anpassungsleistung, ggf. Schwierigkeiten mit Selbstwert und Grenzen
Ungewöhnliche Variablen-Kombis wie PPLL oder RLRR→ extrem rezeptive Gehirnverarbeitung, kombiniert mit fester Perspektive
Individuelle Kanäle oder „melancholische“ Tore (z. B. 22, 55, 39, 28, 38) mit Kreativität, Sinnsuche, emotionaler Tiefe, aber auch Leere und einer Melancholie oder Traurigkeit falls nichts passiert
Split-Definition mit fehlender Brücke über Tor 12, 33 oder 11 mit ggf. sozialem Rückzug, kommunikative Blockaden, inneres Wissen ohne konstanten Ausdruck
Quad-Right (RRRR)-Designs sind extrem sensitiv und empfänglich, kaum steuerbare Wahrnehmung, oft fehlinterpretiert als „verträumt“ oder „chaotisch“, oder auch schnell überfordert aufgrund der Fülle an Reizen
Diese Designs sind nicht defizitär. Sie sind nicht-lineare Intelligenzsysteme in einer linearen Welt. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir alle perfekt ausgestattet wurden, für unsere Aufgaben - aber sich das manchmal mit unseren Konditionierungen, unserer Erziehung und der Gesellschaft in der wir aktuell leben, beißt. Und wo genau die Grenze zu pathologisch oder nur nicht "der gesellschaftlichen Norm entsprechend" liegt, das maße ich mir nicht an zu wissen.
RRRR Menschen (Quad Right):
Kein Output-System. Kein aktives Framing. Hochgradig sensitiv. Nicht „träge“, sondern rezeptiv-intelligent. Unfähig, sich „strategisch“ zu bewegen – dafür aber exzellent im intuitiven Handeln im hier und jetzt.
RRLL oder LLRR:
Extreme Diskrepanz zwischen logischer Struktur und körperlicher Offenheit oder umgekehrt mit einem modernen rezeptiven Verstand in einem aktiven, oldschool Körper. Häufig bei Menschen mit Masking, chronischer Erschöpfung oder sozialen Ängsten. Körper und Verstand agieren sehr unterschiedlich.
Linkes Gehirn + rechte Umgebung (L/R):
Strategisches Gehirn trifft auf unplanbares Umfeld. In stabilen Settings hochfunktional, in instabilen Kontexten überfordert.
Diese Kombis sind nicht „kompliziert“. Sie sind neurologisch sinnvolle Antworten auf Reizverarbeitung. Human Design hat hier das Potenzial, einen neuen Diskurs über kognitive Vielfalt zu eröffnen. Ein richtig oder falsch kennt Human Design nicht, nur einen Umgang. Oder auch Schwierigkeiten, weil die Gesellschaft nun mal ganz andere Regeln kennt und wir oft auf funktionieren geprägt werden.
Der Umgang mit PDA, Autismus, ADHS im Chart
Pathological Demand Avoidance (PDA) z. B. ist kein Trotz. Es ist eine neurobiologische Reaktion auf erlebte Unkontrollierbarkeit – und zeigt sich häufig in:
emotionalen Designs mit undefinierter Kehle,
stark rechtsgerichteten Variablen (Kontrollverlust durch Erwartung),
Kanälen mit Widerstandsenergie (28–38, 39–55),
ggf. dem Tor 21 (Kontrolle)
Und an dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass Traumata und Erfahrungen sich zwar häufiger in Offenheiten festsetzen, aber nicht ausschließlich. Einschneidende Erlebnisse können alles verändern.
Und das Chart sagt über Konditionierungen durch zb. die Eltern, Geschwister, Beziehungen oder einfach "Zufälle", das Leben an sich, nichts aus. Eine offene Wurzel in einer liebevollen, vertrauten Kernfamilie aufgewachsen wird sich höchstwahrscheinlich ganz anders auswirken auf das spätere Leben als aus existenziell schwierigen Verhältnissen.
Autistische Designs dagegen sind oft:
hoch individuell,
extrem definiert oder extrem undefiniert,
mit tieferem Fokus auf Wiederholung, Logik, Ordnung (z. B. Kanäle 63–4, 17–62),
in Kombination mit rechtem Verstand aber auch rezeptiv-intuitiv (kein Widerspruch!).
völlig undefiniertes emotionales Zentrum ohne Filtermöglichkeiten
und Tor 19 scheint eine besondere Rolle zu spielen
AD(H)S:
Diskrepanz zwischen definierter Inspiration (z. B. Krone oder Ajna) und undefinierter Wurzel oder Milz. Dazu kommen oft mentale oder sehr offene Projektoren oder Menschen mit undefinierter Sakralenergie, die in sakralen Kontexten ständig überreizt sind.
teilweise decken sich die Symptomatiken auch mit den Fähigkeiten von Manifestierenden Generatoren, aber nur ein MG zu sein, heißt nicht ADHS zu haben.
trotzdem kann ein aktiver Körper Hinweise geben, außerdem die Kanäle zwischen Wurzel und Milz
das PHS: in der richtigen Umgebung, gerade was Ruhe/Reize/Impulse von außen angeht; Ernährung (gerade bei den Tag- und Nachtessern)
genügend Rückzug bei Berührungstypen oder Menschen mit den Toren 40, 12 oder 33
Leider weiß man noch nicht allzu viel und wenn, dann nur aus der Erfahrung. Professionelle Studien stehen (noch) aus. Aber ein tiefes Verständnis über die eigene Energie, den Typ, die eigenen Grenzen, gerade was Reize und Impulse angeht, die eigene Individualität kann an dieser Stelle nur hilfreich sein.
Was wäre, wenn dein undefiniertes Emotionalzentrum nicht „instabil“, sondern ultrasensibel wäre – im besten Sinne?
Was wäre, wenn dein 43-23-Kanal nicht „sonderbar“, sondern brillant-individuell-logisch denkt?
Was wäre, wenn deine Unfähigkeit, dich „durchzusetzen“, keine Schwäche, sondern ein Ausdruck eines radikal anderen Nervensystems ist?
Dann wäre dein Human Design keine Anleitung zur Selbstoptimierung – sondern ein Schutzraum. Und eine Einladung. In dein eigenes, anderes, großartiges Funktionieren.
Es wird Zeit, Human Design aus den Coaching-Floskeln herauszulösen. Neurodivergenz ist kein „Spezialfall“ – sie ist ein wachsender Teil unserer Realität. Und Human Design kann – wenn es differenziert gelesen wird – genau das liefern, was die moderne Psychologie oft nicht schafft:
Einen nicht-pathologischen Blick auf tiefe Andersartigkeit.
Eine Sprache für Unfassbares.
Und eine Einladung, richtig falsch zu sein.
Falls ihr Begleitung oder weiteres Wissen möchtet, schreibt mich bitte einfach an info@busymind.org
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